Stramm

… Das bekamen die Stahlarbeiter, folgert daraus Stramm auch erinnernd an die Zeit, als die Schwerindustrie in die Krise kam, am stärksten zu spüren. Denn als die Nachfrage am Weltmarkt an Stabstahlprodukten nachließ, und nur mehr Bleche, unter anderem für die aufkommende Autoindustrie gefragt waren, schloss man einfach die Stabstahlabteilungen in einigen Werken. Nicht nur in dem Walzwerk, wo Stramm, wie erwähnt gearbeitet hat. Das war ein Grund, warum dort die Möglichkeit bestand, als erstes die Arbeiter, egal ob sie in der Stabstahlproduktion beschäftigt waren oder nicht, die keine Mitglieder der Sozialistischen Partei waren, in andere Standorte der Stahlindustrie wie Maschinenteile zu versetzen. Stramm zum Beispiel bekam eine Woche vor der Schließung der Stabstahlabteilung, ohne dass er vorher von irgendwem mündlich benachrichtigt wurde, vom Personalbüro einen eingeschriebenen 5Brief an seine Privatadresse zugestellt, in dem zu lesen war, dass Stramm sich nächste Woche montags in der Früh im nächsten Standort des Stahlkonzerns einzufinden habe, wenn nicht, ist das eine Arbeitsverweigerung. Das kommt einer fristlosen Kündigung gleich. Unterschrieben vom Personalchef, der gleichzeitig Bürgermeister der Stahlstadt war und der Sozialistischen Partei angehörte. Rechtlich wurde das Ganze von der Arbeiterkammer, die unter sozialistischer Führung war, unterstützt. Der nächste Standort war fünfundvierzig Kilometer von Stramms Wohnort entfernt. „Herr Stramm, sie müssen dort mit einem neuen Arbeitsvertrag, als Hilfsarbeiter anfangen“, hieß es noch telefonisch von Seiten des Personalbüros. Unsere Arbeiter, war in der Gewerkschaftszeitung eine Woche vorher zu lesen, versetzt man als letzte. Damit meinte der Betriebsratsobmann der sozialistischen Fraktion seine Mitglieder von der Sozialistischen Partei. Denn der Betriebsratsobmann und kein anderer entschied letztlich, wer versetzt wurde und wer nicht. Der saß auch im Aufsichtsrat der Firma und in der Arbeiterkammer und hatte ein reichliches Zusatzeinkommen neben seiner Tätigkeit als freigestellter Betriebsrat. Nur die Zahl der zu Versetzenden wurde vom Vorstand des damals noch vereinigten Stahlkonzernes, für die einzelnen Standorte vorgegeben. Als Stramm am fünften Oktober im neuen Standort nicht zur Arbeit erschien, betrachteten die Vereinigten Edelstahlwerke des Walzstandortes dieses Verhalten als einen unberechtigten vorzeitigen Austritt ohne wichtigen Grund. Stramm erhielt daraufhin einen eingeschriebenen Brief per Express, in dem stand, dass das Dienstverhältnis daher mit dem letzten Arbeitstag, das war der zweite Oktober, endet. Am dritten Oktober wurden die neuen Betriebsratswahlen im Werk durchgeführt. Am alten Standort konnten die Versetzen nicht mehr wählen und am Neuen durften sie noch nicht. Dieses Vorgehen gegenüber den Arbeitern im Betrieb wird sich eines Tages rächen, dachte Stramm damals. Später erfuhr er von seinem Bruder, dass fast alle Arbeiter, die in die Frühpension geschickt wurden, als die Stahlkrise in der Mitte der Achtziger Jahre ihren Höhepunkt erreichte, aus der Gewerkschaft austraten. Stramm hatte bis zu seiner Kündigung, die quasi von der Sozialdemokratie durchgeführt wurde, an die Gewerkschaftspolitik der sozialistischen Fraktion geglaubt. Danach glaubte er nichts mehr, was sie sagten. Das waren Stramms einprägende Erlebnisse, die sein Leben, so wie er es verstand, bestimmen sollten und ihm seine Richtung vorgaben. Zurückblickend mussten sie deshalb auch gedanklich variierend, wiederholend auftauchen. Sie zeigten ihm, 34wie die Essenz des Menschen durch seine Existenz vergewaltigt wird.


…Das Buch ist bei der Redaktion der MHM zum Preis von 11 Euro (kpoemuerz@gmail.com oder unter 0650 2710550) erhältlich.
Im Herbst wird es eine Lesung in Mürzzuschlag und eine in Hönigsberg geben. Die Termine werden rechtzeitig veröffentlicht.

6. April 2018

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